Die sündhafte Muße

Essay zum Nichtstun von Maya S. Thaler

„‘Cause today I swear I’m not doing anything! - Denn heute schwöre ich, dass ich nichts tun werde!“

Bruno Mars besingt in seinem Song „The Lazy Song“ stolz das Nichtstun. In einer Welt, in der jeder nach dem Motto “höher, schneller, weiter, besser” lebt, ist es fast rebellisch, sich der aktiven Betriebsamkeit zu entziehen. Unser Alltag ist geprägt von einem ständigen Streben nach Produktivität, von einem unablässigen Drang, uns zu verbessern und voranzukommen. Keine Pause, keine Ruhe. Auch die Mehrheit der Schüler weltweit lebt in dieser „Hustle-Culture“. Doch wir sehnen uns sündhaft danach, diesem Rhythmus zu entkommen. Der Entzug aus diesem System wird heutzutage jedoch oft als Zeitverschwendung oder sogar als Faulheit betrachtet. Inwiefern lässt sich das Umgehen unseres eigenen Bedürfnisses nach Muße und wahrer Erholung in der heutigen Gesellschaft rechtfertigen?

Das Nichtstun hat viele Namen, ob als Muße, Bequemlichkeit oder Otium bezeichnet, beschreibt es doch immer einen Zustand der Untätigkeit. Obwohl die Untätigkeit nur unsere äußeren, ergebnisorientierten Handlungen umfasst und nicht die trotzdem anhaltende Aktivität des Gehirns, welche sich durch den Entfall äußerer Reize auf das Selbst orientiert, wie Stanislaw Dick, den Neurophilosophen Evan Thompson zitierend, erklärt. Was genau Nichtstun für einen ist, ist jedoch sehr individuell. Einige sehen alles, was nicht Arbeit ist, als solches an, andere das Nachgehen von Hobbies und wieder andere Meditation.

Der Verlust der Muße ist keinesfalls ausschließlich ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Bereits im 19. Jahrhundert schrieb Friedrich Nietzsche darüber in seinem Werk „Muße und Müßiggang“. Schon zu seiner Zeit machten Reichtum und Erfülltheit in den Augen der Menschen das Leben lebenswert, weshalb die Jagd nach Gewinn, der Aspekt war, der keine Zeit für Untätigkeit ließ. Nietzsche kritisierte die damit einhergehende Scham, sich dem Vergnügen hinzugeben.

Natürlich ist heute das Leben vieler Menschen immer noch von dem Hinarbeiten auf einen besseren Lebensstandard geprägt. Ob intensives Lernen in der Schule für einen guten Studienplatz, zahlreiche Praktika und Fortbildungen für einen besseren Job, oder das exzessive Sammeln von Überstunden, um bei der nächsten Gehaltsverhandlung erfolgreich zu sein, ein Großteil unseres Lebensinhalts besteht aus ständiger Produktivität.

Eine weitere Ursache für das Verschwinden des Nichtstuns aus unserem Alltag ist die technische Beschleunigung. In einem Interview „DER ZEIT“ mit Prof. Dr. Hartmut Rosa, erklärt dieser, dass wir durch Autos immer schneller von einem Ort zum anderen eilen, durch E-Mails immer schneller kommunizieren und in immer kürzerer Zeit mehr Güter und Dienstleitungen herstellen können. 

Darin wurzelt seiner Meinung nach auch die soziale Erwartung, immer produktiver und schneller zu sein. Früher hat es Tage oder Wochen gedauert, bis man eine Antwort auf seinen Brief erhalten hat, da dieser einige Zeit unterwegs war und sich der Empfänger Zeit genommen hat in einer sauberen Sprache darauf zu antworten. Heute wird, wenn man nicht innerhalb von fünf Minuten auf eine WhatsApp antwortet, sofort eine weitere Nachricht gesendet und der Empfänger unter Druck gesetzt, schnell, während des Mittagsessens oder der Raucherpause zu antworten.

Aufbauend darauf sieht Rosa zusätzlich eine Beschleunigung der sozialen Geschwindigkeit und damit auch eine Beschleunigung des allgemeinen Lebenstempos als Grund für weniger Nichtstun. Durch die von uns in der heutigen Zeit ständig geforderte Flexibilität und Hetzerei, finden wir weniger Zeit unsere sozialen Beziehungen zu pflegen. Die Menschen haben keine Kapazität mehr für Zeremonie, wie Nietzsche schrieb.

Ein weiterer, nicht von der Hand zu weisender Aspekt ist, dass sich die Vorstellung eines guten Lebens geändert hat. Viele Bürger des 21. Jahrhunderts sind der Meinung, dass sie so viel wie nur irgend möglich erleben zu müssen, bevor sie sterben. Nichts zu erleben ist für sie verschenkte Lebenszeit. Deswegen versuchen wir in unsere Freizeit so viele bedeutsame Aktivitäten wie nur möglich zu quetschen. Hier noch ein Onlinekurs, hier zwei neue Hobbies, dort noch drei Reisen, Hauptsache wir bleiben beschäftigt und können etwas erzählen.

Rosa stellt zudem fest, dass die Menschen sich nicht nur deswegen immer beschäftigen müssen, weil sie so sozialisiert wurden, sondern auch, weil sie nie gelernt haben, sich selbst ausgesetzt zu sein und mit sich zu beschäftigen. Sie hätten Angst vor dem, was sich in ihrem Selbst verberge, dass Langeweile der Seele guttun könne. Anstatt dessen würden sie sich einer Dauerstimulation aussetzen, ausgehend von Musik, Kino, Aktivitäten und den sozialen Medien. 

Das rastlose und endlose Streben nach Erfolg und Erfahrungen, einer Sucht ähnelnd, führt jedoch nicht nur zur Effizienzmaximierung, sondern auch zur Erschöpfung unseres Geistes. Nietzsche sieht als Folge dessen den Verlust an Vergnügen, Ästhetik und innerer Ausgeglichenheit. Immer flexibler müssen wir werden, immer kurzfristiger und oberflächlicher werden unsere sozialen Beziehungen und umso einsamer werden wir. 

Das Ausmaß der Stressbelastung in Deutschland ist als Folge des Produktivitätsdrucks enorm. Jeder dritte gab in einer Studie der Techniker Krankenkasse mit dem F.A.Z. Institut an, ständig oder häufig gestresst zu sein. 

Dass wir dem Druck nicht mehr standhalten können, kann man immer öfter sehen. Immer mehr Menschen schaffen es nicht mehr mit dem Tempo und den Erwartungen der heutigen Zeit Schritt zu halten und leiden unter Burnouts, Depressionen und psychosomatischen Symptomen wie Schlaflosigkeit.

Um uns gleich wieder an die Arbeit oder ins nächste Abenteuer stürzen zu können, wurde das Nichtstun also zum notwendigen Übel, genutzt zum Aufladen unserer sonst immer am Minimum geladenen Batterie. Und auch hier gilt: je effizienter, je schneller die Genesung, desto besser. Das widerspricht jedoch dem fundamentalen Sinn des Nichtstuns, welches, wie Ulrich Schnabel betont, nur dem reinen Selbstzweck dient.

Auch, wenn wir mal durch äußere Umstände, wie an Weihnachten, dazu gezwungen sind, nichts zu tun, sehnen wir uns nach dem Tempo, an welches wir uns gewöhnt haben und erleiden, wie Prof. Dr. Rosa es passend bezeichnet, „Entzugserscheinungen“, welche sich als Unruhe oder Gefühl der Sinnlosigkeit äußern. Um wieder zur Muße zu finden, braucht es seiner Meinung nach Zeit.

Sich diese Zeit zu nehmen, entwickelt sich jedoch schleichend zum Trend. Aufgrund der zahlreichen negativen Auswirkungen des Produktivitätsdrucks, verzeichnet die Gegenbewegung zur „Hustle-Culture“ immer mehr Anhänger. Immer mehr Menschen werten ihr Leben auf, indem sie sich vom Tempo der heutigen Gesellschaft abwenden und zum Müßiggang zurückkehren. Als Extrembeispiel dienen hierzu unter anderem Einsiedler, aber auch Durchschnittsmenschen setzen sich nun während des Nichtstuns stärker mit sich selbst auseinander, verfolgen aktiver wertvolle Unterhaltung und Kontakt zu Freunden und Familie. 

Beide, Muße und Betriebsamkeit koexistieren in unserer heutigen Zeit. Der ständige Drang nach Produktivität, ausgelöst durch technischen Fortschritt, Erwartungen von anderen, an uns selbst und unser Leben, sowie einem gesteigerten Lebenstempo, dominiert aber noch immer unseren Alltag. Es ist von entscheidender Bedeutung, dies zu durchbrechen und sich bewusst Raum für Erholung und Reflexion zu schaffen, da kaum jemand diesem Tempo langfristig standhalten kann. In einer Welt, die immer schneller wird, ist das Nichtstun eine wertvolle Ressource für Inspiration und inneren Ausgleich.

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